Aktenlawine wächst auf historischen Rekord
Deutschlands Justiz ächzt unter einer erdrückenden Last unerledigter Ermittlungsverfahren. Laut neuen Zahlen des Statistischen Bundesamtes (Destatis) türmte sich der Rückstand im Jahr 2024 auf 950.900 offene Fälle – ein neuer Höchststand seit Beginn der Erhebung im Jahr 2014.
Trotz rückläufiger Neueingänge konnte die Justiz den Berg an Verfahren nicht abbauen. Im vergangenen Jahr wurden 5.491.700 neue Ermittlungsverfahren eingeleitet, während nur 5.464.300 abgeschlossen werden konnten. Damit wächst der Rückstand weiter – um rund drei Prozent binnen eines Jahres.
Zum Vergleich: Ende 2020 lag die Zahl der offenen Ermittlungen noch bei 709.400 Fällen. In nur vier Jahren ist der Rückstand damit um über ein Drittel angewachsen.
System überfordert – Ermittler und Staatsanwälte am Anschlag
Die Zahlen zeichnen ein bedrückendes Bild: Deutschlands Staatsanwaltschaften geraten zunehmend an ihre Grenzen. Fachleute warnen, dass die Personalsituation vielerorts „dramatisch“ sei. Immer mehr Ermittler müssen gleichzeitig eine steigende Zahl komplexer Fälle bearbeiten, während digitale Verfahren und Bürokratie zusätzliche Zeit kosten.
„Der Druck auf die Justiz nimmt seit Jahren zu“, heißt es aus Justizkreisen. Eine Entlastung sei nicht in Sicht, da in vielen Bundesländern Stellen unbesetzt blieben oder nur befristet vergeben würden.
Mehrheit der Ermittlungen endet ohne Gerichtsverfahren
Nur ein Bruchteil der Ermittlungsverfahren schafft es überhaupt vor Gericht. Laut Destatis endeten rund 60 Prozent aller Verfahren im Jahr 2024 mit einer Einstellung, häufig mangels Tatverdachts oder wegen Geringfügigkeit. Lediglich sieben Prozent führten zu einer Anklage, während zehn Prozent in einem Strafbefehl mündeten. Die restlichen 24 Prozent wurden auf anderem Wege erledigt, etwa durch Verfahrensverbindungen oder Weitergabe an andere Behörden.
Der überwiegende Teil der Ermittlungen – etwa 83 Prozent – wird weiterhin durch die Polizei angestoßen. Damit bleibt die Belastung der Justiz auch direkt von der Polizeiarbeit abhängig, die ihrerseits durch steigende Fallzahlen und zunehmende Kriminalitätskomplexität gefordert ist.
Eigentumsdelikte dominieren – Drogenverfahren brechen ein
Inhaltlich zeigt sich ein klares Muster: Der größte Anteil abgeschlossener Ermittlungen entfällt auf Eigentums- und Vermögensdelikte, mit 1.547.000 Fällen bzw. 28 Prozent aller Verfahren.
Auf Platz zwei folgen Verkehrsdelikte mit einem Anteil von 17 Prozent, während Gewalt- und Körperverletzungsdelikte rund zehn Prozent ausmachen.
Auffällig ist dagegen der deutliche Rückgang bei Betäubungsmittelverfahren. Mit etwa 315.000 Fällen wurden hier 25 Prozent weniger abgeschlossen als im Vorjahr. Grund dafür ist die Teil-Legalisierung von Cannabis, die im April 2024 in Kraft trat. Seitdem werden Verstöße nach dem neuen Konsum- und Medizinal-Cannabisgesetz getrennt erfasst, was zu einer spürbaren Entlastung in diesem Bereich führte.
Politik und Justiz im Konflikt über Reformbedarf
Die wachsende Zahl unbearbeiteter Fälle löst inzwischen auch politischen Streit aus. Justizverbände fordern mehr Personal, modernere IT-Systeme und effizientere Verfahren. Kritiker werfen der Politik vor, seit Jahren zu wenig in die Struktur der Justiz zu investieren.
„Wir laufen Gefahr, dass Rechtsprechung zur Geduldsprobe wird“, warnt ein leitender Oberstaatsanwalt. Verfahren, die sich über Jahre hinziehen, schadeten dem Vertrauen in den Rechtsstaat.Die Lage gilt inzwischen als strukturelle Krise der Strafverfolgung: Überlastete Behörden, fehlende Digitalisierung und gesetzliche Reformstaus bremsen das System – während der Aktenberg weiter wächst.